Doppelstunde Geographie

Endogene und exogene Prozesse – so steht es geschrieben im Hamburger Lehrplan für das Fach Geographie in Klasse 10. Erstere beschreiben alles, was seinen Ursprung im Innern der Erde hat, also Vulkanismus und Erdbeben, letztere erklären die äußeren Einflüsse auf unseren Planeten wie Stürme, Gletscher und Niederschläge. Mit Inhalt zu füllende Schlagwörter sind Epizentrum, Magma und Lava, Plattentektonik, Hurrikane aber auch Subduktionszonen und der pazifische Feuerring. Anfänglich kam dieses Thema bei meinen Schülern gut an. Naturgewalten sind auch aus der Entfernung spektakulär. Später wurde es ihnen dann zu theoretisch und abstrakt. ‚Langweilig’, hieß dann oft und vor allem ‚nicht prüfungsrelevant’, denn am Ende der 10. Klasse standen wichtige Abschlussprüfungen an, die alle Energie aufzusaugen drohten. Außerdem spielte in den freitagnachmittäglichen Geographiestunden immer schon das Wochenende, seine Partys und das jeweils andere Geschlecht eine größere Rolle als staubige Atlanten in einem miefigen Klassenzimmer. Noch zwei Stunden absitzen und dann ab in die Freiheit. Ich kann das gut verstehen, ich war ja auch mal Schüler.

Ich behaupte allerdings, dass kein Schüler beim Anblick eines leibhaftigen Vulkans, auf die Idee käme, endogene Prozesse als langweilig zu bezeichnen. Nicht mal an einem Freitagnachmittag. Ich jedenfalls bin wie elektrisiert auf dem Weg zum Cerro Negro, dem schwarzen Hügel, einem der jüngsten und aktivsten Vulkane an Nicaraguas Westküste und Teil des pazifischen Feuerrings. Schon aus der Entfernung wirkt die Landschaft surreal: schwarzgrau schimmert das Basaltgestein, die Luft flirrt heiß darüber, apokalyptisch drohend steigen gelbe Schwefeldämpfe aus dem Berg, während die Landschaft zu Füßen des Vulkans üppig erstrahlt in allen möglichen Grüntönen. Hier ist die Natur verschwenderisch, sie zeigt alles, was sie hat: Es gedeihen Erdnüsse, Sesam, Mangos, Papayas, sogar Eukalyptus und alle möglichen tropischen Baumarten. Alles wächst und gedeiht ganz prächtig. Und über allem der wolkenlose und stahlblaue Himmel, verziert mit einigen Wolkenfetzen, die der Wind auf den nahen Pazifik trägt. Diese Kulisse verschlägt einem mit ihren harten Kontrasten die Sprache.

Ich wünschte also, ich hätte meine Klasse mitnehmen können nach Nicaragua. Leider ist das Budget für Klassenfahrten begrenzt, aber vielleicht schafft es ja der ein oder andere hierher, gemeinsam mit Fernando, der im Unterricht immer so begeisternd und überschwänglich von seinem Heimatland berichtet hat. Ich bin mir sicher, er würde schier durchdrehen vor Freude darüber, seinen wintergeplagten Mitschülern dieses immergrüne, freundliche und vor allem seismisch hoch aktive Land zu zeigen.

Wir sind aber heute nicht allein wegen der überwältigenden Natur zum Cerro Negro gereist, wir wollen auch Action. Touristenaction. In Léon, der nächstgrößeren Stadt, haben wir Henry gefunden, oder besser, er uns. Er ist Reiseleiter und bietet nicht nur Besteigungen des Vulkans an, nein, mit ihm kann man nach dem Gipfelsturm über eine steile Flanke des Berges auf einem snowboardartigen Schlitten wieder talwärts rasen. Am Fuße des Berges rüstet er uns mit rotem Maleroverall, Skimaske, Arbeitshandschuhen, einem schwarzen Tuch mit Totenkopfmuster und einem zusammengeflickschusterten Brett mit extra schneller Unterfläche aus, wie er sagt.

Auf dem Weg nach oben erzählt er von den Magmakammern, die sich unter unseren Füßen befinden und das Gestein so erhitzen, dass man in einem nur wenige Zentimeter tiefen Loch ein Ei in kurzer Zeit knüppelhart kochen könnte. Es stimmt, ich schabe nur etwas Oberflächenschutt zur Seite, sofort steigt mir fauliger Schwefelgeruch in die Nase und meine Schuhsohlen drohen zu schmelzen. Henry ist eigentlich Psychologe, hat aber nie in diesem Bereich gearbeitet, weil man in Nicaragua mit Touristen viel mehr Geld verdienen kann. Jetzt ist er der Geographielehrer, der ich gerne wäre. Er kann live und vor Ort und in Farbe darüber berichten, was sich im Erdinnern Spektakuläres abspielt. Während des Aufstiegs können wir die anderen Vulkane dieses Komplexes sehen. Den Telica, den höchsten in der Reihe, den Santa Clara und den Cerro de Aguerro im Norden, den Las Pilas und den Volcán del Hoyo im Süden. Und dies sind nur fünf von insgesamt 19 Vulkanen im kleinen Nicaragua an dessen Küste sich die pazifische Cocosplatte unter die karibische Erdplatte schiebt und dabei immer wieder die Erde zum Wackeln bringt und Berge zum Feuerspucken.

Wenn Henry so über die Vulkane erzählt, klingt das, als würde er über gute Freunde berichten. Alle haben einen unterschiedlichen Charakter, die einen sind eher explosiv, ganze Hänge brechen weg und rauschen ins Tal wenn sie schlecht gelaunt sind, andere schwelen und schmollen Jahrzehnte vor sich hin und stoßen nur dann und wann mal kleinere, ärgerliche Rauchschwaden aus, ohne dass irgendetwas Schlimmes passiert und wieder andere, darunter der Cerro Negro, spucken bei Ausbrüchen wütend kilometerweit Asche und Gesteinsfontänen in die Atmosphäre. Sein Temperament hält der Berg jetzt schon zu lange im Zaum, wie wir erfahren. Zuletzt bedeckte er seine Umgebung 1999 mit einer zentimeterdicken Staubschicht, also vor 17 Jahren und damit ist er nun sieben Jahre überfällig, denn in den letzten Jahrhunderten ist er im Schnitt alle 10 Jahre so richtig in die Luft gegangen. Eine richtige Diva, dieser Berg. Bei denen weiß man ja auch nie so genau, wann der nächste Ausbruch kommt.

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Über einen extrem windigen und staubigen Kamm erreichen wir schließlich den höchsten Punkt des Vulkans auf 728 Metern. Um uns herum dampft und brodelt es, fast stürze ich ab zusammen mit Tonnen von schwarzen Geröll, als ich zu nahe am Rand balanciere. ‚Erdkundelehrer löst Gerölllawine beim Versuch einen Vulkan zu besteigen aus’, wäre eine schöne Schlagzeile, die meinem Berufsstand zu wenig Ehre gereichen würde.

Dazu kommt es zum Glück nicht, wir können noch eine Zigarettenlänge lang die Aussicht genießen und dann legen wir das Gerät an. Henry will, dass wir die ersten sind, die an diesem Tag den noch jungfräulichen Hügel hinunterrasen. Er weist uns an, die roten Overalls überzustreifen, die Skimaske aufzusetzen und die Arbeitshandschuhe anzuziehen. Wir machen uns startklar an einem über 40° steilen Abhang aus grobkörnigen Schutt. Es staubt und die Sonne brennt gnadenlos. Schon jetzt knirscht feiner Vulkansand zwischen meinen Zähnen. Dazu kommt, dass der Berg eine irrsinnige Hitze abstrahlt. Der Anzug steht nach kurzer Zeit unter vulkanischem Druck.

Der Rekord liegt bei 90km/h, aufgestellt von irgendeinem Touristen, erfahren wir staunend. 90! Alter! Das ist schnell. Zackig erklärt Henry uns, wie man die Schlitten am besten navigiert: Alles mit den Füßen, Hände auf dem Schlitten lassen, nicht in den Schutt greifen. Nervöses Rumgefuchtel bringt einen nur aus dem Gleichgewicht. Wenn man etwas Fahrt aufgenommen hat, einfach nach hinten lehnen und mit etwas Glück einen neuen Geschwindigkeitsrekord aufstellen.

Es geht los, ich fuchtel aufgeregt mit den Händen herum und überschlage mich im Schutt. Schuhe und Overall füllen sich mit vulkanischem Gestein, auf meinem schweißnassen Gesicht kleben kleinste Staubpartikel. Es fühlt sich an wie Schmirgelpapier. Während ich versuche, meinen Schlitten zu bergen, sehe ich meine Freundin Luisa elegant zu Tal gleiten. Sie hat bei den Ausführungen offenbar besser aufgepasst und verfügt sowieso über einen besseren Gleichgewichtssinn. Als ich mich wieder in Position gebracht habe, gelingt auch mir ein technisch einwandfreier Start. Unter dem Schlitten knirscht und knarzt es, ich schlinger hin und her, werde aber immer schneller. Wie ein Pennäler versuche ich noch Luisa zu überholen und sie damit zu beeindrucken. Das gelingt mir nicht, zu geschmeidig, zu meisterhaft erreicht sie das Ziel.

Das war’s dann auch schon: Eine Doppelstunde Geographie, von der man auf der Party am Abend erzählen kann.

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