„Dir ist schon klar, dass du weiß bist und deshalb privilegiert?“, fragt mich mein ehemaliger Schüler Jeffrey geradeheraus. Vor vier Jahren löste sich unser Lehrer-Schülerverhältnis und seitdem laviert er, jedes Mal, wenn wir uns sehen, unsicher zwischen dem formalen Sie und dem freundschaftlichen Du hin und her. In diesem Fall duzt er mich sehr bestimmt. Die Antwort auf seine Frage lautet nein. Nur, wenn mich jemand daran erinnert so wie du jetzt, dann lautet sie ja.
Als Jeffrey mich zum ersten Mal erinnerte, war ich sein Lehrer in der neunten Klasse. Zu Gast in der Schule waren Vertreter aus Industrie und Wirtschaft, die für ihre jeweilige Branche als künftige Arbeitgeber warben. Mit dabei ein ehemaliger Flugkapitän der Lufthansa. Jeffrey lauschte gebannt dem Vortrag des älteren Herren, war sich im Anschluss aber nicht sicher, ob Pilot ein realistischer Berufswunsch für ihn sei. Als Schwarzer, so sagte er, habe man eh keine Chance auf einen Ausbildungsplatz. Ich wollte diese Aussage zunächst nicht wahrhaben, wiederholte stattdessen mein Mantra, dass Träume auch mal in Erfüllung gehen, wenn man ihnen treu bleibt. Ich vergaß, dass Jeffrey nicht über mein Selbstbewusstsein und die Sorglosigkeit verfügte, die mir aufgrund meiner Erziehung und meiner Herkunft zu eigen waren und sind. Das ist ein weißes Privileg. In seinem Alter hatte ich sicher jede Menge Probleme, etwas so Fundamentales wie meine Hautfarbe gehörte nicht dazu.
Heute sprechen wir über Skype über Rassismus und die #blacklivesmatter Bewegung, die mich (mal wieder) sensibel macht für Etwas, das für Jeffrey jeden Tag Realität ist. Seine Bedenken hat Jeffrey überwunden, sich bei Airlines beworben, seinen Berufswunsch aber dennoch eingetauscht gegen einen nicht weniger ambitionierten Ansatz: Rechts- und Politikexperten können ungleich viel mehr erreichen als Piloten, wenn es um Gleichstellung und Emanzipation geht. Dabei hat Jeffrey keinesfalls Deutschland oder Europa im Blick – er möchte zurück nach Ghana und dabei helfen, sein Land unabhängig zu machen von einer Weltwirtschaft, die den gesamten afrikanischen Kontinent in Schulden hält und in ihm weiter nichts sieht als eine Ressource für Rohstoffe und Lebensmittel. Gemeinsam lauschen wir einer inspirierenden Rede des ghanaischen Präsidenten Nana Akufo-Addo. Er möchte den Braindrain zurückdrehen und wirbt eindringlich um das in Europa gestrandete Talent seines Landes. Ich verstehe Jeffreys Drängen gut. Etwas in mir will jedoch nicht wahrhaben, dass es mit meinen weißen Privilegien zu tun hat. Und doch, je länger wir sprechen, merke ich, dass genau das der Fall ist.
Wir beginnen mit unseren Geographie-Schulbüchern. Darin wird der afrikanische Kontinent extrem verkürzt dargestellt. In den Schuljahren 7-10 werden die USA, Russland, China und Indien als wirtschaftliche Großräume mehr oder weniger differenziert abgebildet. Afrika kommt nur im Kapitel Entwicklung vor. Außerdem werden die Pygmäen in der Demokratischen Republik Kongo kurz porträtiert. Das ist in etwa so, als würden beispielsweise nigerianische Schulbuchverlage Europa anhand der traditionellen Lebensweise der Sorben illustrieren. Aus weißer Sicht führt diese Darstellung unter Umständen zu einem Gefühl von Überlegenheit, aus schwarzer zum Gegenteil.
„Als Weißer merkt man womöglich gar nicht, dass man überhaupt Vorteile hat“, überlegt Jeffrey als wir weitersprechen. Schwarz sein in Deutschland bedeute auch, sich allen möglichen Situationen mit einem Gefühl von Unterlegenheit zu stellen. Zum Beispiel auf dem Wohnungsmarkt: Die erste Nachbarin in Hamburg sagte zu Jeffreys Mutter in freundlichem Tonfall, dass sie ja ganz schönes Glück gehabt hätte, diese Wohnung zu bekommen. Normalerweise würden hier nur Weiße einziehen. Man muss als Schwarzer also immer ganz besonders dankbar sein für Selbstverständlichkeiten.
In der Schule spreche ich immer mal wieder über Sinn oder Unsinn von anonymisierten Bewerbungen, um Herkunft und Hautfarbe zu verschleiern. Viele meiner Schülerinnen und Schüler hatten in der Vergangenheit das Gefühl, schlechtere Karten bei betrieblichen Auswahlverfahren zu haben, weil sie nicht der weißen Norm entsprechen. Jeffrey meint, Anonymisierungen würden auch nicht helfen. Spätestens beim Einstellungsgespräch sieht die Personalchefin oder der Personalchef doch sowieso, wer ihr oder ihm da gegenübersitzt. Die Mehrzahl der Entscheider würde sich bei gleicher Qualifikation für die weißen Bewerber entscheiden, glaubt Jeffrey. Es sei ganz einfach leichter für die Unternehmen. Man wisse, auf wen man sich einlasse und erspare sich unnötige sprachliche, kulturelle oder gar religiöse Störungen im Betriebsablauf. Nach außen hin wird gerne so getan, als sei man ganz furchtbar divers, aber das ist oft nicht mehr als ein Lippenbekenntnis, positiv für die Außenwirkung. So lautet Jeffreys erschütternde Diagnose.
Mein erster weißer Reflex ist Abwehr. Ich will das nicht wahrhaben und ertappe mich dabei, wie ich die üblichen Relativierungsversuche von mir gebe. Sowas wie: „Sicher gibt es an einigen Stellen Probleme, andererseits entwickele sich die Gesellschaft an anderen Stellen doch recht positiv.“ Gerade noch rechtzeitig merke ich es selbst: Ich breite meine weißen Privilegien vor Jeffrey aus. Es geht nicht darum, ob es vereinzelt Probleme gibt oder massenhaft, es geht darum, dass ich mir als Weißer in Deutschland niemals auch nur ansatzweise Gedanken darüber machen muss, ob mein Gegenüber mich auf meine phänotypischen Merkmale reduzieren könnte. Nicht in Schule und Uni, nicht auf Wohnungs- oder Jobsuche, nicht auf Behörden, auch nicht bei einer Polizeikontrolle und erst recht in Clubs und Bars.
Besonders hier ist Rassismus immer recht leicht zu identifizieren, berichtet Jeffrey aus jahrelanger Erfahrung. Er erzählt, dass es für zwei Schwarze ohne weiße Begleitung quasi unmöglich sei, in einen Club zu kommen. „Unmöglich?“, falle ich ihm ungläubig ins Wort. „Ja, so wie ich das sehe, ist es unmöglich. Wir probieren es trotzdem immer mal wieder“, antwortet er fast amüsiert. Mit seinen Freunden macht er dann schon auf dem Hinweg ins Hamburger Nachtleben galgenhumorige Witze darüber, wer wohl am schnellsten wieder in einer Bahn nach Hause sitzt. Eine Türsteherin auf der Reeperbahn wies ihn mal ab mit der Bemerkung, er hätte die falsche Haarfarbe. „Jungs, heute wird das nichts“, sagen sie dann und treten den Rückzug an. Besonders unangenehm ist ihm ein Abend in einem Club in der Großen Freiheit in Erinnerung geblieben. Zusammen mit zwei weißen und einem schwarzen Freund saß Jeffrey an einem Tisch bis ein Security-Mann kam, mit dem Finger auf ihn und seinen schwarzen Freund zeigte und sie schroff anwies, zu gehen. Der Manager wolle sie hier nicht haben. In Groningen sei er bisher noch nicht abgewiesen worden. Nur einmal fühlte sich ein Türsteher berufen, Jeffrey beim Reingehen „klar und deutlich die Regeln zu erklären“, wie er sich ausdrückte. Seinen weißen Kommilitonen wurde diese Belehrung selbstverständlich nicht zuteil.
Meistens sei das Problem aber subtiler, man kann schließlich nicht in die Köpfe seiner Mitmenschen gucken. Oft bleibe nur so ein blödes Gefühl. Nach dem Abitur in Hamburg hat Jeffrey als Dolmetscher für Twi und Englisch in Behörden gearbeitet. Auf seine Erfahrungen angesprochen, wird er vorsichtig. Er kann nur sagen, dass die Stimmung einiger Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sich verdüstert, wenn jemand anruft, oder auch persönlich erscheint, der Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache hat. Vielleicht ist es Stress, Überforderung, oder gar Rassismus? Jeffrey weiß es nicht und es ist ihm im Grunde auch egal. Wichtig ist für ihn das Signal, das bei den ausländischen Kunden ankommt. Es lautet: „Ich bin hier nicht willkommen“.
Aber wie können wir all das jetzt auflösen und uns irgendwann auf Augenhöhe begegnen, wie es so schön im Pädagogensprech heißt? Als die Debatte um #blacklivesmatter auch in Deutschland Fahrt aufnahm, wusste ich nicht, wie ich meine Solidarität zum Ausdruck bringen sollte. Ist es nicht viel zu leicht, wenn nicht sogar anbiedernd, einfach ein schwarzes Bild bei Instagram zu posten, um mich Teil einer Sache zu machen, dessen volles Ausmaß ich gar nicht verstehe? Jeffrey sagt: Nein. Im Gegenteil, das sei sogar genau richtig. Es gehe darum, als breite Masse sichtbar zu werden. Ihn freue viel mehr, wenn viele weiße Menschen sich äußern zu dieser Debatte, die raus muss aus der Nische und ankommen muss im Mainstream. Das sei ein Anfang und jeder Anfang ist gut.
