Konstadin ist mit mir am ZOB in Hamburg in den Bus gestiegen und auf der Heimreise nach Pleven in Zentralbulgarien. Sieben Monate hat er auf Baustellen in ganz Norddeutschland gearbeitet, nun freut er sich auf seine Familie.
In Hülsberg, einem Dorf nördlich von Bremen, halten wir auf einem Erdeer- und Spargelhof. Gerade als ich mich frage, warum wir diesen umständlichen Umweg nehmen und ratlos aus dem Fenster schaue, kommt ein Grüppchen junger Frauen auf den Bus zu. Die Tür geht auf, alle steigen ein und sind gelöst. Urlaubsstimmung.
In Bayreuth steigt Studentin Natalie zu. Sie studiert BWL und hat endlich Semesterferien, auch sie freut sich auf ihre Familie in Bulgarien.
Mit jedem Stopp wird der Bus voller und voller und je länger die Fahr dauert, desto neugieriger werden meine Mitreisenden. Sie fragen sich, weshalb da ein Deutscher in ihrer Mitte sitzt. Deutsche nehmen keine 30-stündige Bustortur auf sich. Sie fliegen.
Eine Klasse, 14 Nationen
Ich erkläre meinen verwegenen Plan: Ich bin Lehrer an einer Hamburger Schule, wo ich Schüler ehemaliger internationaler Vorbereitungsklassen unterrichte. In diesen Klassen haben die Kids für ein Jahr Deutsch gelernt, erfolgreich eine Prüfung absolviert und befinden sich nun, kurz vor dem Übergang in Klasse 10, auf dem steinigen Weg in Richtung Schulabschluss. Insgesamt sind wir, mich eingeschlossen, 14 Nationen. Diese Vielfalt macht neugierig und weckt in mir das Bedürfnis über meinen Hamburger Tellerrand hinauszuschauen. Also habe ich mir das ehrgeizige Ziel gesteckt, die Herkunftsländer meiner Schüler zu besuchen. Ich beginne mit Bulgarien und fahre Bus, weil auch meine Schülerin Bus fährt.
Außerdem erzähle ich meinen Sitznachbarn, dass in unserer Klasse zuweilen das böse Wort ‚Wirtschaftsflüchtling’ im Zusammenhang mit Bulgaren die Runde macht. Meine Schüler finden das nicht gut. Meine Nachbarn auch nicht und ich auch nicht. Ich sage, Deutschland sollte sich glücklich schätzen, so talentierte und intelligente Menschen, willkommen zu heißen. Und ich sage das nicht, um mich bei meiner Fahrgemeinschaft einzuschleimen.
Die Fahrt dauert und dauert. Nach Bayreuth kommen noch Erlangen, Nürnberg, Regensburg, Passau und Wien. In jeder Stadt nimmt der Fahrer weite Umwege in Kauf, um weitere Personen einzusammeln. Die versprochene Ankunftszeit in Sofia ist so auf keinen Fall zu schaffen. Irgendwo in Österreich beschwert sich Konstadin lauthals und beschwört deutsche Tugenden. In Germania gebe es so etwas wie einen Zeitplan, man würde so eine Fahrt anders und vor allem besser organisieren.
Es fällt auf, dass alle Reisenden, mit denen ich spreche, ein ausgesprochen positives Deutschlandbild haben.
Schlechtes Gewissen am Sofioter Bahnhof
Wir fahren durch Ungarn und Serbien. Je näher wir der bulgarischen Grenze kommen, desto lauter wird das Heimatbashing. ‚Nichts funktioniert, alles marode, Politiker korrupt.’ Als dann noch, nach mittlerweile 37-stündiger Fahrt (angesetzt waren 30) der Bus ausgerechnet auf der Zielgeraden kurz vor Sofia schlappmacht, ist das Gezeter groß. Katastroph! Unter großen Anstrengungen und im Schweiße ihres Angesichts, gelingt es den Fahrern dann doch noch, den altersschwachen Motor wieder zum Laufen zu bringen. Der Unmut der Fahrgäste ist durchaus berechtigt, wie ich finde: Es ist mittlerweile 5.00 Uhr morgens und viele haben ihre Anschlussmöglichkeiten verpasst und müssen warten.
Völlig zermürbt und kaputt von der Fahrt stehe ich am Bahnhof und denke an meine Schülerin, die nach den letzten Ferien ein paar Tage zu spät in der Schule erschien. Sie brachte Ausreden wie: ‚lange Busfahrt, noch dazu verspätet’, vor. Die Schule ist misstrauisch und lässt solcherlei Geschichten nicht gelten – schließlich unterliegen hier alle der Schulpflicht. Ich habe sie oberlehrerhaft und pflichtschuldig ermahnt und für den Wiederholungsfall Sanktionen angedroht. Mitten in der Nacht am Sofioter Busbahnhof habe ich ein schlechtes Gewissen.
Deutschlehrer werden immer gebraucht
Am nächsten Tag habe ich eine Verabredung mit Frau Mavrodieva. Von ihr möchte ich wissen, weshalb sich Deutschland in Bulgarien so großer Beliebtheit erfreut. Sie gibt Deutschkurse an einem großen Institut in Sofia und kann mir sicher helfen. Sie erzählt, dass Deutschland gut ausgebildete Bulgaren regelrecht abwirbt und diese willig folgen. In über 20 Schulen können interessierte Bulgaren das DSD, das Deutsche Sprachdiplom, ablegen und sich dann aufmachen in das Land ihrer Träume, um dort Arbeit zu finden.
Die Lehrkräfte an den DSD-Schulen werden aus Deutschland finanziert, die Schüler in den Kursen sind zumeist hochqualifiziert. In ihren eigenen Klassen sind oft mehr als die Hälfte Mediziner, verrät Frau Mavrodieva. Ärzte, die in Bulgarien fehlen. Auch ausgebildetes Pflegepersonal sitzt oft in ihren Klassen, berichtet sie fast schon resigniert. Außerdem stellt sie fest, dass Deutschland scheinbar einen großen Bedarf an Fachpersonal im Hotel- und Gaststättengewerbe sowie auf dem Bau hat.
Die Gründe für die Bereitschaft vieler Bulgaren, ihrem Heimatland den Rücken zu kehren, liegen auf der Hand: Löhne und Gehälter weit unter europäischem Durchschnitt und hohe Arbeitslosigkeit. Außerdem, und das ist nicht selbstverständlich im Europa dieser Tage, ist Deutschland wirklich überaus beliebt in Bulgarien. Unser Land gilt als Beispiel für gelungenen Aufbau, Offenheit, Gerechtigkeit und wirtschaftlichen Erfolg.
Denn wirklich ärgerlich ist, findet Frau Mavrodieva, dass Bulgaren in Deutschland oft verallgemeinernd als ‚Einwanderer in die sozialen Sicherungssysteme’, ‚Wirtschaftsflüchtlinge’ oder schlicht ‚Roma’ bezeichnet werden. Auch sie nimmt Berichte zur Kenntnis, in denen es heißt, Bulgaren würden ganze Wohnstraßen zumüllen und die deutsche Mehrheitsgesellschaft gefährden. Die wiederum gründe ihrerseits Bürgerwehren und fahnde nach Autos mit bulgarischen Kennzeichen, um potentielle Einbrecher schon im Vorfeld zu stellen. Doch die Angst der Deutschen ist unbegründet, vielmehr ist das Gegenteil richtig: Viele Bulgaren versorgen uns als Ärzte und Pfleger, bedienen uns in Restaurants, machen unsere Betten in Hotels, malochen auf dem Bau oder fahren die Ernte auf den Feldern ein.
‚Das Leben ist eine Chance’
Den von Frau Mavrodieva beschriebenen Exodus kann ich gar nicht nachvollziehen. Sofia macht auf mich einen bunten, lebendigen und lebensfrohen Eindruck. Mir klingt noch ihr etwas bitterer Abschied in den Ohren: Ich könne ja hierbleiben, Deutschlehrer werden immer gebraucht.
Ich will nicht, dass mein bisher so positiver Eindruck vom Land täuscht. Tut er aber, bestätigt Iliana, eine ausgebildete Journalistin, die zurzeit in einem Restaurant jobbt und nebenbei als Putzfrau arbeitet. Es gebe keine Jobs und die Eliten des Landes wirtschaften sich in die eigenen Taschen. Viele ihrer Freunde sind bereits weg, in Deutschland, den Niederlanden oder in Großbritannien. Von den paar Euros, die sie verdient, bleiben Reisen, Auto und Sicherheit ein Traum. Deshalb liebe sie Europa und vor allem Germania und schmiedet nebenher Pläne, ihr Land zu verlassen. Das Leben ist eine große Chance, sagt sie und Europa biete ihr alle Möglichkeiten, diese auch zu nutzen.
‚Ich liebe Germania!’ Dieser Ausspruch macht mich nachdenklich. Wann hat in Deutschland wohl das letzte Mal jemand ‚Ich liebe Bulgarien’ gesagt…? Oder ‚Ich liebe Europa’…? Wehmütig verabschiede ich mich und hoffe, dass wir Europa bald alle gemeinsam wieder als Chance verstehen und nicht als Kostenfaktor und allgemeines Ärgernis.
In den nächsten Tagen lasse ich die Lichter der schönen Hauptstadt hinter mir und fahre in die Provinz nach Ruse und Dobrich, die Heimatorte meine Schülerinnen. Natürlich mit dem Bus.